Eine Sportstunde lang den Krieg vergessen
Fitness-Gymnastik in sicherer Umgebung
Die Musik gibt den Rhythmus vor, Trainerin Alona weist die Übungen dazu an, für alle Körperteile, jeden Muskel und jede Faser hält sie passende Bewegungen bereit. Im Mehrzweckraum des DRK-Ortsvereins Celle geht es jeden Donnerstagabend kraftvoll und dynamisch zu. Für den unbedarften Besucher eine Szenerie, wie sie in anderen Sportstätten der Stadt auch vorzufinden ist. Und doch unterscheidet sich diese Fitness-Gymnastik-Stunde von allen anderen. Die 13 Frauen, die hier mit Elan und Begeisterung steppen, kreisen und dehnen, sind allesamt Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.
Einige sind dabei, ihre neuen Wohnungen zu renovieren, etliche suchen nach Deutschkursen, manche haben bereits Minijobs angenommen. Ein sich einspielendes Alltagsleben in sicherer Umgebung? Der Eindruck täuscht. „Wir leben ständig im Krieg“, sagt Irina während einer kurzen Pause. Ihr Kopf kann wie der ihrer Mitstreiterinnen nicht abschalten von den Geschehnissen in der Heimat. „Wir stehen in stetigem Kontakt mit Familie und Freunden zuhause, und wir gucken dauernd Nachrichten“, berichtet die junge Frau, die aus einem kleinen, Celle vergleichbaren Ort nahe Kiew stammt. Die Leiterin der Gruppe, Sportlehrerin Alona, kommt aus der zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiv unweit der russischen Grenze. Reden über das, was passiert ist, kann sie nicht, zwei Söhne und ihr Mann sind noch dort. Nach kurzem Innehalten sagt die 47-jährige Mutter von vier Kindern: „Wir hatten ein ganz normales Leben, waren glücklich, und auf einmal von einem Tag auf den anderen ist plötzlich alles weg.“ Im März kam sie nach Deutschland, hat gerade eine Wohnung in Celle erhalten, mit Sport wehrt sie sich gegen die stetige Sorge, Angst und das Grübeln. „Sie ist seit März schon zwei Marathon gelaufen“, berichtet Larisa Hellmich, die vor Jahrzehnten aus der Ukraine nach Deutschland übersiedelte und die Kleiderkammer des DRK-Ortsvereins gleich gegenüber vom Haupthaus betreut. Seit die ersten Landsleute nach Beginn des russischen Überfalls kamen, ist sie in stetigem Hilfseinsatz, dolmetscht, organisiert und vermittelt, so auch den DRK-Mehrzweckraum: „Es kam die Frage auf, ob nicht irgendwo Sport betrieben werden könnte“, erzählt sie. Dank bestehender Netzwerke via Internet dauerte es nur wenige Stunden, bis ein Angebot auf die Beine gestellt werden konnte. „Wir können Sport auf Ukrainisch machen“, hieß es nach der Zusage von Trainerin Alona.
Seither treffen sich die Frauen unterschiedlicher Altersgruppen zweimal pro Woche im DRK-Ortsverein Celle. Was dieses für sie bedeute, können sie leicht beantworten: „Ein bisschen Normalität, entspannen, mal an etwas anderes denken“, sprudelt es aus Irina heraus. Die junge Frau wartet die Übersetzung der Frage erst gar nicht ab, sie versteht und fährt auf Deutsch fort: „Mit dem Kopf sind wir doch immer im Krieg.“ Larisa Hellmich übersetzt ins Ukrainische, die beiden anderen Interviewpartnerinnen Viktoria und Marina nicken, dass es ein Kreis von Landsleuten ist, spielt durchaus eine Rolle. Trainerin Alona ergänzt: „Das ist hier ein Stück Heimat.“
Text und Fotos: Anke Schlicht